Seelenamputierte Mittelständler

von Esther Slevogt

4. Mai 2012. Der Tittenmagazinsvorsteher zum Beispiel. Mit fünfundzwanzig Jahren hat er sich sterilisieren lassen, um sich allein der Lust widmen zu können und von lästigen Fortpflanzungspflichten befreit zu. Nun ist er 45 und sehnt sich nach Befreiung aus der Mösensklaverei. Er wolle auch ein Mal genommen werden, schreit er verzweifelt. Einige Zuschauer rechts und links schauen leicht verschämt. Es ist etwas stickig an diesem Ort. Viele haben ihre Garderobe angesichts der Temperaturen schon auf das Äußerste reduziert. Dabei befindet man sich auf einem Ausflugsschiff mitten auf dem Neckar.

ding aus dem meer klausfrhlichTheater auf dem Neckarschiff © Klaus Fröhlich

Doch Fenster und Ausgänge ins Freie, ans luftige Deck sind verhängt, verklebt. Und so kann man der Verzweiflung des Tittenmagazinsvorstehers Boris auch ein wenig eigene Verzweiflung hinzufügen, hier so unvermittelt in dramatische Gefangenschaft geraten zu sein. Zumindest für Boris allerdings, so heißt der Mann im grauen Anzug, naht nun Erlösung: Vom Ding aus dem Meer nämlich, jener undefinierbaren Gefahr, die auch dem Stück von Rebekka Kricheldorf – dessen Zweitaufführung durch Gernot Grünewald auf dem Ausflugsdampfer MS Europa wir hier beiwohnen – seinen Titel gab. Denn nun wird Boris genommen: sprich, von dem Ding verschlungen. Von jenem Ding also, das auf der Unglückfahrt eines Partyschiffs auf offener See gesichtet wurde und von dem wir nicht wissen, ob es echt ist oder nur ein Wahngespinst der betrunkenen wie frustrierten Mittelstandsgesellschaft, deren Neurosen und jämmerliche Glücksversuche uns hier präsentiert werden. Aber natürlich ahnen wir bald: das Ding könnte das richtige Leben sein, dass hier mitten im falschen seinen Tribut fordert.

Papieren raschelnde Figuren

Gernot Grünewalds Inszenierung nutzt also ein echtes Schiff und echte Zuschauer als realistische Rahmung. Das könnte ein schönes Theaterevent sein, vertrüge nur das Stück soviel Realismus. Doch die Figuren rascheln alle etwas papieren. Eine Psychologie kann ihnen nicht nachgesagt werden, von der sie jetzt so tun müssen, als hätten sie eine. Nicht der Ärztin Carla, auch ihrem verkorksten Sohn Ronnie nicht, ein Computerjunkie, der die Welt lediglich in virtueller Form und medienvermittelt erträgt. Oder die junge Barfrau Mimi. Am griffigsten ist noch Mutter Berenice, eine böse Aphorismenschleuder.

Ja, und so schippern wir munter durch Klischees von seelenamputierten Mittelständlern, hören zwischendurch immer wieder Steine vom Herzen der Dramatikerin in den Neckar fallen, die sichtlich froh zu sein scheint, dass sie nicht so ist wie die Menschen, die sie in ihrem Stück beschrieben hat. Ein Pianist pianistet süffigen Softrock. Der Dampfer zieht seine Schleifen im Neckar, derweil sich die Passagiere langsam meucheln. Die Zuschauer blicken stumm und nippen an ihrem Schampus. Am Ende werden die Planen von den Fenstern gerissen. Draußen erscheint in herrlichster Abendsonne das schöne Heidelberg. Der Dampfer dreht eine letzte Pirouette. Ende.

 

Das Ding aus dem Meer
Ein Katastrophenstück von Rebekka Kricheldorf
Regie: Gernot Grünewald, Ausstattung: Davy van Gerven.
Mit: Nicole Averkamp, Dominik Lindhorst, Natalie Mukherjee, Stefan Reck, Christina Rubuck und Ralph Opferkuch (Musiker).
www.theaterheidelberg.de

 

Zur Nachtkritik der Heidelberger Spielzeiteröffnung im Oktober 2011, bei der auch "Das Ding aus dem Meer" zu sehen war

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