Bis ich endlich rein darf

von André Mumot

Rollennamen links, in Großbuchstaben. Eingerückte Dialoge. Szenenanweisungen, kursiv gesetzt. Manchmal liest man Papier und sieht bereits Bühne, kann sich vorstellen, wer aus welcher Richtung kommt, in welchem Licht steht. Hier nicht. Nicht bei diesem fatalen Schluss, der ganz unbekümmert in der Luft hängt.

Ein Selbstmörder baumelt, mit dem Strick um den Hals, am Baum, über dem Fluss, sagt: "Ich bekomme schlecht Luft, aber ich bekomme leider noch welche." Eine ehemalige Zirkusartistin, Edith, ist zur Hilfe geeilt, hält nichts vom Suizid und weist ihn zurecht: "Ihr Kopf läuft rot an, Sie machen etwas falsch." (Er antwortet: "Ich bin noch nicht fertig, da ist es normal, dass mein Kopf rot wird, denke ich.") Sie stützt ihn irgendwie und hängt, wie es heißt, kopfüber dabei. Im weiteren Verlauf klettern auch noch zwei andere Dramenhauptfiguren aufs Geäst. Und bevor sie dann zu viert in den Tod hinunterstürzen, tauschen sie bemerkenswert amüsante Dialoge aus und trotzen noch eine Weile der Schwerkraft. "Wir schweben. Das ist wichtig für die Zuschauer. Schweben", sagt Edith. Und die Autorin setzt, kursiv, als gehässige Anweisung hinzu: Applaus.

Weltrettungsrhetorik und Alltagserschöpfte

Da steckt also ein kleiner Angriff in diesem tragkomischen Todesquartett, und er richtet sich an uns. In "Wir schweben wieder" von Charlotte Roos wird an einem Schuldkomplex gerührt, an einem gegenwartstypischen Selbstquälerei-Abkommen zwischen Dramatikern, Bühnenfiguren und dem Publikum. Wieder stellen wir alle uns die Frage: Wie viel wiegen unsere kleinen individualpsychologischen Depressionen, wenn anderswo Bürgerkriege wüten und Menschen hungern und Pole schmelzen? Und, nächste Frage, kann und darf und soll man Theater darüber machen, dass ein Sohn, der hier Bruno heißt, eigentlich bloß von seinem Vater gerngehabt werden möchte? Der fragliche Vater würde wohl dagegensprechen. Schließlich, das berichtet Bruno im Selbstgespräch, macht ihm der alte Herr dauernd Vorhaltungen darüber, dass ihm "jedes Klassenbewusstsein fehlt, dass meine rein literaturwissenschaftliche Tätigkeit von einer haarsträubenden Unverbindlichkeit ist."

Charlotte Roos, die 1974 in Düsseldorf geboren wurde, bereits in Graz, Hannover, Bochum und Zürich inszeniert hat und dann noch mal am Leipziger Literaturinstitut Schreiben studierte, spitzt mit Vorliebe die Kollision von Wohlstandsneurosen und großem Elend zu. Nachdem sie 2009 mit "Hühner. Habichte", einer Entfesselung von animalischen Urinstinkten im Wohnblock, zum Berliner Stückemarkt eingeladen wurde und in St. Gallen sowohl Jury- als auch Publikumspreis gewinnen konnte, kehrt sie jetzt zu einem Konflikt zurück, der ihrem ersten Stück nicht unähnlich ist. In "Die Unmöglichkeit einer Insel", das in der Spielzeit 2007/08 am Theaterhaus Jena uraufgeführt wurde (und auf wenig Gegenliebe bei den Kritikern traf), schlugen sich Gran-Canaria-Urlauber mit der Realität unerwünschter Afrika-Flüchtlinge herum. In "Wir schweben wieder" prallt nun die Rhetorik der Weltrettung auf das Allerweltsdilemma der Alltagserschöpften.

Austauschbare Sorgen

Während des gesamten Stückes sitzt Laura in einer Kabine und dolmetscht synchron die Ansprache, die der venezolanische Präsident Hugo Chávez im Dezember 2009 beim Weltklimagipfel in Kopenhagen gehalten hat. Es sind flammende Worte über die Verfehlungen des Kapitalismus, und immer wieder flicht die Autorin sie in das Geschehen hinein, als Audio-Unterbrechungen, die von der Dolmetscherin betont gleichgültig vorgetragen werden. "Wir sind fähig diese Erde nicht zum Grab der Menschheit zu machen", heißt es da am Schluss. "Lassen Sie uns diese Erde zum Himmel machen, einem Himmel des Lebens, des Friedens, Frieden und Brüderlichkeit für die ganze Menschheit."

Zur Menschheit gehört aber eben irgendwie auch Maria, die gebetsmühlenartig wiederholt, wie austauschbar ihre Sorgen sind: "Wie lange noch, frage ich mich dreimal in der Woche dreißig Minuten, bis mich endlich jemand braucht, bis mir jemand zuhört, bis ich dazugehöre, bis ich endlich rein darf." Und da ist Bruno, der nach dem Tod seines Vaters dessen Brillen aufträgt, um die Welt aus seiner Perspektive zu sehen. Und Carl, der an Depressionen leidet und sich nach dem Tod sehnt. Bevor er sich entleiben kann, muss sich nur Laura von ihm trennen – die sitzt aber gerade in der Kabine und dolmetscht.

Arien, Terzette, Fugen

Auf kurz oder lang laufen sie alle, in schönen dramaturgischen Schlaufen, der Zirkusartistin Edith über den Weg, die in einem Club namens ExotikErotik an der Stange tanzt, für jeden kluge Worte übrighat und schließlich im großen Selbstmordverhinderungsversuch alle mit in den Tod reißt. Übrig bleibt eine Brille von Brunos Vater, die sich Laura aufsetzt, nachdem sie aus der Kabine getreten ist. Auch sie kann nun einiges sehen, was ihr vorher nicht möglich war, kann Sätze der anderen Rollen sprechen, noch immer ohne sie zu verstehen. Die Rede zur Rettung der Welt aber ist vorbei und vermutlich auch nicht einmal von ihr wirklich gehört worden.

Wie bei ihrem ersten Stück, das Charlotte Roos eine Installation für drei Schauspieler genannt hat, interagieren die Personen weniger miteinander, als dass sie ihre Geschichten als separate Arien entfalten. In kunstvollem Geschick verknüpft die Autorin ihre Solopartien zu einer musikalischen Partitur, schnürt Duette, Terzette und fügt am Ende alles in die Fuge des geradezu fröhlichen Schlussdialogs im Baum zusammen. Und dies nur, um uns ein schlechtes Gewissen zu machen? "Es ist eine Kunst. Und wir sind Teil davon", sagt Edith beim Schweben, aber Carl antwortet: "Das ist ein Missverständnis ... Es geht hier nicht um Ästhetik (...) Es geht um Leben und Tod."

Das schwebende Theater

Nein, es ist nicht fair, private Probleme gegen Klimakatastrophen auszuspielen. War es noch nie. Um so erfreulicher ist es, wenn das Theater aus diesem Zwiespalt Funken schlägt, wenn es abhebt mit schön und gut formulierten Sätzen, mit Hintersinn und einer Fähigkeit, die keine Selbstverständlichkeit ist: Charlotte Roos kann aus dem Papier, das sie streng und konzentriert und mit musikalischem Dialoggehör beschreibt, Menschen hervorholen, Söhne, Selbstmörder, Erotiktänzerinnen, die mehr sein dürfen als nur Futter für unsere (Selbst-)Verachtung.

Die Welt geht unter, und noch immer wollen wir Kunst und haarsträubende Unverbindlichkeit. Wir denken an unsere Eltern, an die Trennung von der Freundin, daran, dass wir nichts mit uns selbst anzufangen wissen. Auch das ist Menschheit, auch das ist Leben und Tod. In diesem kleinen Drama klingt es aber für den Moment ganz leicht, ein bisschen traurig, ein bisschen, als wäre es nur zum Lachen. Eine Weile können wir mit dem Theater schweben, irgendwann aber kommen wir unten an. Die Schwerkraft hat ja doch immer recht. Und niemand setzt kursiv "Applaus" darunter.

 

Lesung von "Wir schweben wieder" am dritten Autorentag, 6. Mai um 11 Uhr im Zwinger 3

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