Alte und neue Rezepte, Heimat und Zahlen

von Esther Slevogt

autorenteppichDer Autorenjahrgang 2012: Mario Salazar, Reihaneh Youzbashi Dizaji, Wolfram Höll, Charlotte Roos, Thomas Arzt, Markus Bauer und Katja Hensel.

7. Mai 2012. Ökonomie essen Seele auf, so in etwa ließe sich das leitmotivische Grundrauschen der sieben Texte auf den Punkt bringen, die in diesem Jahr um den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes konkurrierten. Texte, die immer wieder auch nach dem Möglichkeiten von Heimat und Identität in der globalisierten Welt fragten, wie die deutsch-iranische Dramatikerin Reihaneh Youzbashi Dizaji in ihrem Stück Stuttgart.Teheran.Dialog, eine innere Reise durch den Iran und ihre Familiengeschichte, die mit der Erkenntnis abschließt, dass es keine Heimat sondern höchstens ein Zuhause geben kann.

Der Gewinner

Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Heimat grundiert auch Thomas Arzts Siegerstück Alpenvorland, ein großflächiges Heimatstück, in dem Arzt sehr vielschichtig mit dem Befund umgeht, dass es so etwas wie Heimat in der durchökonomisierten Gesellschaft des Neoliberalismus nicht mehr geben kann. Ein Befund, den er an einer Gruppe Thirtysomethings durchexerziert, die sich seit ihrer Jugend kennt. Auf sehr unterschiedliche Weise lässt Arzt sie mit dem Versuch scheitern, so etwas wie eine Existenz zu begründen. Der Grund ist aufgeweicht, und Häuser lassen sich darauf nicht mehr bauen. Nicht marktkompatible Kategorien wie Liebe, Freundschaft oder Solidarität sind von Egoismus, Selbstvermarktungsinteressen und Profitdenken ausgehöhlt. Die demografische Torte, auf der in Statistiken grafisch immer so hübsch übersichtlich das prozentuale Gesellschaftsgefüge verdeutlicht wird, taucht als ebenso reales wie cremiges Backkunstwerk auf, das sich die Protagonisten irgendwann um die Ohren hauen: Autoaggression statt Revolte. Wie Traumtexte schiebt Arzt immer wieder Reflexionen über das fatale Hier und Jetzt ein, in dem hinter der Einfamilienhaus- und Karrieretristesse seines Personals so etwas wie das Alpenglühen der Utopie spürbar wird. Aber einen Weg, der dorthin führt, den gibt es nicht. Im nächsten Jahr wird "Alpenvorland" in Linz von Ingo Pütz uraufgeführt.

Starke Nicht-Gewinner

Auch die Protagonisten von Markus Bauers Stück Verachtung richten die Aggression gegeneinander, statt die Verhältnisse ins Visier zu nehmen, die sie bedrängen. Es geht um die Frage: warum arbeiten wir? Ist Arbeit Leben? Und was soll das überhaupt heißen: Leben? Mit melancholischer Bissigkeit, die manchmal an frühe Stücke von Yasmina Reza erinnert, führt Bauer an innere Verzweiflungsränder. Der einzige Halt, den es in dieser Welt noch gibt, ist eine gut geölte Stückdramaturgie.

Alte Rezepte zur Analyse und anknüpfender Verbesserung der Welt wie der Marxismus wehen durch Charlotte Ross' Drama Wir schweben wieder. Doch die wenigen Sätze aus Karl Marx' "Das Kapital", die das Grundprinzip des alles zueinander in Werterelationen setzenden Kapitalismus beschreiben, werden von Roos' Protagonistin am Ende lediglich für ein altes Gedicht gehalten, dessen Melodie sie plötzlich über den Wassern eines Flusses schweben spürt. Sonst ist diese Laura als Simultandolmetscherin auf politischen Konferenzen mit den dogmatischen Resten dieser Ideologie befasst, die sie entsprechend unberührt lassen. Zwischen diesen Polen erzählt Charlotte Roos die Geschichte dreier Menschen, die im Untergang ihre Erlösung finden, ein starker wie enigmatischer Text, der gelegentlich auch mit der Suadaform des Theaters von René Pollesch spielt, aber das fühlende und sprechende Subjekt noch nicht verloren geben will.

Am Leben werden wir nicht scheitern heißt das Stück, mit dem Mario Salazar in Heidelberg angetreten ist. Und im Nachsatz müsste man vielleicht sagen: weil wir schon gescheitert sind. Salazar versammelt die ganze Welt in seiner wort- , pointen- und figurenreichen Materialschlacht auf dem Hinterhof eines Mietshauses, wo sich allerlei prekäre wie hoffnungslos vereinsamte Existenzen gegenseitig bekriegen und absurde Stellvertreterkriege führen; eine abgründig schillernde Comicwelt, in der sich jeder bloß noch um sich selber dreht, dieses Selbst als Zentrum aber eigentlich nichts als ein medial zugemüllter Hohlraum ist. Am Ende droht der surrealen Haus- und Weltgemeinschaft die Auslöschung.

Nachwuchs- und Publikumspreis

Eingeschweißt in eine hochverdichtete lyrische Textfolie ist die Welt in Wolfram Hölls Und dann, für das die Jury in diesem Jahr mit dem Nachwuchspreis spontan einen neuen Preis aus der Taufe hob, um die eigenwilligste Setzung dieses Festivals zu würdigen. In seinem Text evoziert Höll schemenhafte Bilder verlorener Vorstadtlandschaften mit Plattenbauten, einen Vater und sein Kind, unterschiedlichste Erfahrungen von Verlust: gesehen aus den Augen eines Kindes, das vor dieser versiegelten Welt steht und sie mit Worten zu fassen versucht, während sich diese Welt weiter einem Zugriff entzieht. Ein Text, der auch auf einen erlösenden Regiezugriff wartet.

Und dann wäre da noch Önf. Önf bricht plötzlich in das geordnete Wertegefüge ein, das die Ordnung der Dinge so unumstößlich zementiert und sorgt für Verwirrung und einen kurzen befreienden Moment der Anarchie. "Önf" steht in Katja Hensels gleichnamigen und hinreißend leichtfüßigen Stück plötzlich auf der Matte des Hauses, in dem die Zahlen wohnen, und behauptet, ebenfalls eine Zahl zu sein. Das Wertegefüge, die Relationen und Ordnungen der Zahlen geraten aus den Fugen. Denn was für einen Wert Önf verkörpert, das weiß man nicht. Und so purzeln die Werte durcheinander, kommt die zementierte, nur noch in ökonomischen Kategorien denkende Welt kurz aus dem Takt. Ein Stück für Kinder ab sechs, heißt es. Aber man sollte die Erwachsenen nicht unterschätzen. Auch sie brauchen Stücke wie dieses, das die Schwere der Welt auf einmal ganz leicht zu nehmen versteht. Und so hat das Heidelberger Zuschauervolk Katja Hensel auch den Publikumspreis zuerkannt.

 

Zur Meldung über die Preise beim Stückemarkt 2012

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