Symptomatisches Erzählen

von Christian Rakow

"Und dann", das ist eigentlich eine schöne Überschrift. Nicht nur für diesen Heidelberg-Beitrag aus der Feder des jungen Autors Wolfram Höll. Sondern für eine ganze Bühnenliteratur derzeit. Eine Literatur, die sich der großen Addition verpflichtet. Überall hört man Texte "Und dann" sagen: "Und dann ging ich die Straße hinab. Und dann lag ich auf der Wiese. Und dann schaute ich zum China-Imbiss hinüber" und so fort. Die Impressionen tönen in endloser Fortschreibung.

Was in solcher Literatur fehlt, ist ein "Deshalb" oder "Daher", also Motivationen, Kausalitäten, überhaupt alles, wodurch Ereignisse ineinander greifen. Es fehlt auch an – wie die Erzählforschung sagen würde – "theoretischen Sätzen". Was nicht Sätze von allerhöchster philosophischer Weihe meint, sondern schlichtweg Formulierungen oberhalb der Beschreibungsebene, in denen ein Autor Ereignisse perspektiviert, ein Bonmot prägt, eine aphoristische Kraft entwickelt. Es sind Wendungen, bei denen man als Leser den Bleistift zur Anstreichung zückt, weil in ihnen ein bleibender Funken Weisheit aus dem andernfalls bloß vorbeirauschenden fiktionalen Geschehen entspringt.

Im Geschäft der Kohärenz- und Sinnproduktion

Warum diese Tendenz derzeit so mächtig ist, darüber ließe sich länger reflektieren. Und es würde mehr bedürfen als der Binse, dass gedankliche Durchdringung von Stoffen über eine relativ oberflächliche Mimesis hinaus nicht jedem Schreiber gegeben ist und allemal erschwert wird durch den hohen Stück-Output, mit dem allein ein zeitgenössischer Dramatiker sein leidliches Auskommen finden kann. Es gibt auch inhaltliche Dimensionen. Das beliebte Genre der Diskurs-Mimikry, wie es – um nur zwei Vertreter zu nennen – Katrin Röggla ("Die Unvermeidlichen") oder Oliver Kluck ("Über die Möglichkeiten der Punkbewegung") pflegen, legt nahe, dass Gegenwartsdramatiker das Geschäft der Kohärenz- und Sinnproduktion eher in bühnenfernen Massenmedien verorten: im TV, im Internet oder in Zeitungen. Deren Erzeugnisse werden dann im Bühnentext als Unsinn oder Leerlaufkapriolen entlarvt. Was leider nicht mehr als eine deckungsfreie, letztlich gestische Kritik ergibt.

Am anderen Ende der Skala – und damit kommen wir zu Wolfram Höll – stehen Autoren, die sich über betont formale Zugriffe unter den Diskursen wegducken. Roland Schimmelpfennig gibt dafür das Paradigma vor, wenn er in stark sequenzierten, lyrisch rhythmisierten Texten Erzählwelten mit minimaler Ereignishaftigkeit kreiert (man denke etwa an "Vier Himmelsrichtungen"). Ähnlich verhält es sich mit Hölls "Und dann".

Zwischen Plattenbauten

Er habe schon einige Prosatexte verfasst, erzählt Wolfram Höll, der gebürtige Leipziger (Jahrgang 1986), den das Studium des Szenischen Schreibens in die Schweiz (Schweizerisches Literaturinstitut Biel / Hochschule der Künste Bern) verschlagen hat, bei unserem Telefonat. Aber erst in "Und dann" mag er einen eigenständigen künstlerischen Wert erkennen, weil er hier wesentlich genauer mit Sprache gearbeitet habe. Die Einladung zu den beiden wichtigen Stückemärkten nach Heidelberg und zum Berliner Theatertreffen 2012 gibt ihm in dieser Einschätzung Recht.

Das Geschehen in "Und dann" ist in einer wenig spezifizierten ostdeutschen Großstadt angesiedelt: "Vier Plattenbauten / drei Verlierlinge / zwei Kinder / ein Vater", heißt es in Hölls Stückepilog kurz und bündig. Wenn vom Vater im Stück gesagt wird, er arbeite "dort oben / ganz dort oben" im "Riesenhaus" oder "Hausriesen", dann denke er als Autor an das Universitätshochhaus in Leipzig, sagt Wolfram Höll undogmatisch. Dass sich ein Leser, angesichts der erwähnten Familienausflüge in die Sächsische Schweiz, auch Dresden als Ort der Handlung vorstellen mag, findet er einleuchtend. Tatsächlich gibt es die leitmotivisch angesprochenen hunderte Meter langen Plattenbauten ("dieganzestrasselangistes Haus"), den zentralen "großen Platz" oder die "Paradenlangenstrasse" in praktisch jedem ehemaligen Zentrum der Arbeiterklasse.

Verlust der Mutter, eines Landes, einer Sprache

Das Unspezifische gehört hier zum poetischen Programm. Höll wählt sich für seinen Rückblick auf die Jahre nach der Wende, als sich die "Panzerparadenlangenstrasse" zur „Wagenparadenstrasse“ mit "Altwestwagen" verwandelt, einen kindlichen Perspektivträger. Gleichwohl bleibt die Erzählerstimme die des erwachsenen Lyrikers, der in stark repetitiver, rhythmisierter Prosa etwa "Würfelmittausendstimmendrinnen" sagt, wenn er Fernseher meint. Von der Abwesenheit der Mutter, um die der Text kreist, erfährt man lediglich indirekt, wenn wiederholt das Ich mit Geschwisterteil und Vater gegen die russischen Einwandererfamilien mit Vater, Mutter und Kind kontrastiert werden. Wenn Vater abends alte Projektionen von Familienfilmen laufen lässt, heißt es vage: "ein Licht / das Bild ist / Licht / sie / erscheint / sie". Eine Geschichte, wieso die Mutter eigentlich fehlt (tot? fort gegangen?), schält sich nicht heraus.

Höll setzt in seinen Darstellungen auf lange Komposita ("Jedentagwagenparadenstrasse"), möglichst generalisierende Nomen (der Platz, der Himmel, der Rasen) und variabel referierende Personalpronomen. Permanent ertappt man sich bei der Frage: Wer ist jetzt wieder "sie", wer "du“? Weiß ich eigentlich ohne die Programmankündigung, dass es sich um Geschwister handelt? Bruder oder Schwester? Gewonnen wird in Hölls Nebelwerferpoesie ein weiter symbolischer Hof. Das Moment des Verlusts ist darin omnipräsent: Verlust der Mutter, eines Landes, einer sozialen Rolle (Vater landet bald als Couchpotatoe vor dem "Würfelmittausendstimmendrinnen") und Verlust der Sprache, wenn Vater zum dramatischen Höhepunkt der Ereignisse sein fortgelaufenes Kind sucht und sogleich die Klingelschilder in den Hochhäusern nicht mehr lesen kann.

Die oft verwirrende Zuordnung der Personalpronomen und Indizes (du, sie, hier, dort) verlangt nach einer szenischen Umsetzung, die Handlungsträger konkret macht. Eben deshalb überzeugt es, wenn Höll seinen ohne Rollenzuweisungen auskommenden Text, der seiner äußeren Gestalt nach gut in einem Gedichtband stehen könnte, als dramatischen behauptet. Erfahrungen mit Bühnenumsetzungen bringt der Autor selbst mit. Am Schlachthaus Bern hat er bereits Regie geführt bei einer eigenen Stückentwicklung, die den Hollywood-Film "Pearl Harbor" mit der Arbeit eines Modellbauers verschränkte ("pearl harbor mon amour", Premiere im Oktober 2009).

Sich schließender Kreis

Wie endet ein Text, der in seinen mantraartigen Wiederholungen von Kernbegriffen und additiven Reihungen von Geschehenspartikeln tendenziell unabschließbar wirkt? Höll kehrt zum Eingangsszenario seines Textes zurück. Plattenbauten und davor "Verlierlinge", "Riesenkiesel / von Gletschern hergeschoben / vergessen verloren / als die Gletscher sich zurückzogen". Es ist zunächst ein konkretes Szenario einer Neubausiedlung Ost. Am Ende des Textes erscheinen diese "Verlierlinge" vulgo Findlinge symbolisch aufgeladen als Bild für die Rumpffamilie: "und da / sind drei Verlierlinge / ich schaue raus / und da sitzen Vater du und ich / auf je einem / drei Verlierlinge liegen / da / sitzen wir." Was den Figuren ihr Verlust ist, ist dem Poeten sein Gewinn.

 

Lesung von "Und dann" am zweiten Autorentag, 5. Mai, um 14.30 im Zwinger 3

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