Die Empörung der Ungerechten

von Anne Habermehl

Anfang 2011 erfuhr ich, dass das ägyptische Theaterkellektiv Mutiny Group, unter der Regie von Mohamed al Tayaa, dabei war mein Stück "Letztes Territorium" zu proben, in arabischer Sprache, übersetzt und initiiert durch das Goethe-Institut. Im Juni 2011 fuhr ich nach Alexandria. Ich traf den Regisseur und die Schauspielerinnen und Schauspieler kurz nach meiner Ankunft und wurde innerhalb von zwei Stunden Teil einer ägyptischen Theaterarbeit.

Wahrscheinlich kann man nicht davon sprechen, dass ich die Aufführung verstanden habe. Nicht einmal davon, ob sie mir gefallen hat oder nicht. Ich sah meinen Text in einer mir komplett fremden Ästhetik. So ein Theater hatte ich noch nie gesehen. Es spielte mit Mitteln, die ich nicht decodieren konnte. Die Spielweise würde ich beschreiben als leidenschaftlich naturalistisch, aber nicht übertrieben, ein sehr frontales Spiel, frei von psychologischen Tiefen und Höhen. Ich konnte der Geschichte folgen, ich verstand sehr gut, um was gestritten wurde, trotzdem war mir das alles im ersten Moment sehr fremd; ich befand mich nicht nur in einer Theatersprache, deren Begriffe ich nicht kenne; man hatte mich insgesamt in einen kulturellen Raum versetzt, der mir absolut fremd war. Ich sah das Stück und die Figuren, die ich geschrieben hatte, aber ich sah es in einem völlig anderen Gewand, in einem ägyptischen Gewand. Und ich weiß nicht, wie ägyptische Gewänder in der Regel auszusehen haben. letztes territorium1Szene aus der ägyptischen Inszenierung
© Mutiny Group

Was ich verstand: Das Ganze war völlig frei von Zynismus. Nicht frei von Humor, aber frei von jeder Überheblichkeit. Das Fremde war in keinster Weise unangenehm, ich war im selben Raum mit Menschen, und uns wurde dieselbe Geschichte erzählt, "meine" Geschichte. Ich hatte das Gefühl Teil einer Übersetzung zu sein, von einem kulturellen Kontext in einen anderen: Ich hatte den Text aus einer klaren europäischen Perspektive geschrieben, weil ich die andere Seite nicht kannte. Oder kenne. Und plötzlich befand ich mich wie auf der Text-Rückseite, die ich nicht geschrieben hatte. Mitten im Fremden. Sie ermöglichten es mir durch den Spiegel hindurch zu gehen, ich war plötzlich auf der anderen Seite der Wand. Und das war auf eine absolut großartige Weise verstörend.

Im Anschluss an die Premiere gab es im Innenhof des Theaters eine Diskussion mit dem Publikum und der Gruppe. Bald kam die Frage auf: Wer (von den Figuren) macht sich schuldig? Sie richteten diese Frage an mich. Meine erste innere Reaktion war eine starke Irritation, dann eine Abwehr. Ich erklärte, dass es mir nicht darum ginge jemandem eine Schuld zuzuweisen. Dass es alles viel zu kompliziert sei, um eine Schuld objektiv zu benennen. Und überhaupt, wer, der die (globalisierte) Welt vor allem in seiner Unübersichtlichkeit wahrnimmt, kann ernsthaft noch eine Schuldfrage stellen? Diese Antwort löste bei den anwesenden Diskussionsteilnehmern genauso viel Ratlosigkeit und Unverständnis aus wie bei mir zuvor die Frage, und zwischen uns entstand für kurze Zeit ein luftleerer, oder atemloser, Raum. Etwas, was nicht gefüllt war. Nicht im Sinn einer Trennung, keine Mauer, wir hatten nur für einen Moment nicht dieselbe Grundlage für unsere Argumente. Der Moment war: Das Selbstverständliche verschwindet. Ein kurzer Raum, in dem keine Begriffe vorhanden waren. Ein absolut unbeschriebenes Blatt Papier.

Kurz darauf, nachdem die gemeinsame Irritation verdaut worden war, wurde die Schuldfrage allerdings sehr leidenschaftlich fortgesetzt. Konkret darüber, ob Mehdi, der Flüchtling, sich schuldig macht, indem er, durch seine illegale Einreise, gegen europäische Regeln verstößt. Und ob Moritz, der Sohn, sich schuldig macht, indem er gegen das deutsche Gesetz verstößt. Je länger ich der Diskussion folgte, desto mehr wurde ich mir unklarer über meine eigenen Haltungen, hier, in Afrika, in einem anderen Teil der Erde, in einem strikt muslimischen Land, in dem gerade ein Revolution statt gefunden hatte, zu der für mich auch plötzlich zwei Realitäten zu existieren schienen: eine dortige, und eine, wie wir in Europa sie gerne hätten.

Meine westlichen oder europäischen Überzeugungen rieselten mir durch die Finger: Woher hatte ich sie eigentlich genommen? Ich wunderte mich über meinen eigenen eurozentristischen Blick. Ich wunderte mich darüber, dass ich, so verloren in meinem Themendschungel, nicht mehr in der Lage gewesen war mir die einfache Frage zu erlauben: Wer in meinem Stück macht sich, in unserem moralischen Sinn, schuldig? Ich dachte, dass die Globalisierung in diesem Sinn auch ein Gespenst ist, unser Gespenst. Es ist unser Blick auf unsere Vorstellung einer globalisierten Welt. Es ist aber kein globaler Blick. Bei keiner deutschen Diskussion zu diesem Thema habe ich je diese Frage nach Schuld erlebt. Es wird stattdessen viel diskutiert über Grenzverläufe, Abschottungspolitik und pragmatische Lösungsansätze, und am Ende darüber, dass alles sehr schlimm und ungerecht, aber eben nicht lösbar ist. Wir, auf der Seite der Ungerechten, empören uns permanent über die Ungerechtigkeit. Dort empörte sich keiner.

Die Verfassung der deutschen Gesellschaft, wie sie im Stück dargestellt wird, in Form einer kaputten Familie, löste bei den Diskussionsteilnehmern eine Flut des Mitleids aus: Ist es wirklich so schlimm bei euch in Deutschland? Ist es wirklich so, dass sich die Familien alle trennen? Ist es wirklich so, dass alle so vereinzelt sind? Das tut uns wahnsinnig leid, es muss alles sehr traurig sein! Und ich dachte plötzlich: Ja, es ist wirklich traurig! Deutschland ist nicht ein kaltes und falsch verwaltetes Land, es ist ein trauriges Land. Ein Gedanke, der mich in diesem Moment außerordentlich verwunderte, irgendwie fast beschämte, und gleichzeitig erleichterte. Ihr Blick auf die Figuren, die deutschen Figuren, war ein sehr zärtlicher, um vieles zärtlicher als in jeder deutschen Inszenierung. Sie blickten mit einer Empathie auf "mein“ Land, zu der ich selbst nicht in der Lage bin. Und ich weiß nicht, warum es mir dort, mit Hilfe ihrer Augen, gelang, und hier nicht. Aber für diesen Blick bin ich ihnen sehr dankbar.

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