Betroffenheitsbalsam

von Georg Kasch

29. April 2012. Kann man einen Abend kritisieren, der auf dem Blut und den Tränen seiner Beteiligten fußt? Der mit der Aussage beginnt, heute stehe man nicht als Schauspieler hier? Der drei Augenzeugenberichte aneinanderreiht von Menschen, die dabei gewesen sind im Januar 2011, als Ägypten die Revolution erlebte?

Man kann es nicht, weil während der Welturaufführung "No Matter What Happens Now" der Mutiny Group for Arts drei offene Herzen schlagen, und man spürt durch verzögerte Übertitel und andere Pannen hindurch, dass es den Schauspielern aus Alexandria, die gestern noch Letztes Territorium zeigten, um ihr Innerstes geht. Was diese drei Monologe erzählen, ist stark.

Apotheose mit ägyptischer Fahne

Aber wie sie es erzählen, muss man zumindest naiv nennen dürfen: zwischen einer zweckfreien Deko aus Stoffbahnen, mit Betroffenheitsbalsam auf den Stimmbändern und mimetischen Schreien, wo Stille hilfreicher gewesen wäre. Eingebettet sind die Texte in Nachrichtenbilder, die tief in buttercremigem Musikpathos waten. Während auf den verwackelten Aufnahmen Menschen sterben, dröhnt die Hollywood-Botschaft "Wir werden siegen!", als Apotheose leuchtet die ägyptische Fahne, denn Ägyptens Kinder starben, damit Ägypten lebt. Uff.

Man kann diesen Abend nicht kritisieren. Aber man muss. Denn natürlich kämpfen die Mutiny-Leute mit Lärm und Action gegen ein unaufmerksames Publikum an, und wenn sie die Revolution wie Hollywood-Action wahrgenommen haben, ist es ihre Sache, dieser Wahrnehmung künstlerisch Ausdruck zu verleihen. Wenn man aber sieht, wie professionell, dramaturgisch geschickt und illusionslos sich Laila Soliman und ihre Truppe in No Time for Art desselben Themas angenommen haben, wird klar, dass es Alternativen gibt zu derartiger Revolutionsfolklore. Sie schmerzt, weil die ägyptische Stunde Null eine Illusion ist und es sehr wohl darauf ankommt, was jetzt geschieht.

 

No Matter What Happens Now
von Sherif Dessouky
Regie: Mohamed El Tayaa.
Mit: Salwa Ahmed, Mohamed Amin, Ahmed Askar, Ahmed Youssef.
www.theaterheidelberg.de

 

Zur Kurzkritik über drei neue ägyptische Dramen

Zum Essay über die ägyptische Theaterlandschaft

Kommentare   

+2 #1 Friederike Hork, Heidelberg 2012-04-30 10:16
Ich war gestern dabei, und frage mich, ob es nicht doch wieder unserem deutschen Blick entspricht, den Mitteleinsatz als naiv zu beschreiben und das "wie" in Frage zu stellen. Für ägyptische Verhältnisse könnte dies doch legitim und gerechtfertigt sein. Interessant ist doch, dass dieser und der Abend von Soliman sich in der Idee gleichen, zu den TV-Bildern aus individueller erzählen lassen, was am 28. Januar 2012 geschah. Dass diese Gruppe hier zu einem anderen Ergebnis kommt und bei aller Gewalt auch feiert, was in den Tagen möglich war, ist nicht verwerflich, sondern eine anderer Blick auf die Realität, mag es auch ein Gegenpol zu Soliman sein.

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