Scherz, Satire, Ironie und romantischer Trotz

von Georg Kasch

Als Wolfram Lotz' "Der große Marsch" am 20. Mai 2011 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen seine Uraufführung erlebte, überraschte das Presseecho. Während Lotz noch im Jahr zuvor mit seinem Stück den Werkauftrag und Publikumspreis des Stückemarkts des Berliner Theatertreffens gewann, nur wenige Monate vor der Premiere zudem den Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker und ein knappes halbes Jahr später von den Kritikern der Fachzeitschrift "Theater heute" zum Nachwuchsautor des Jahres gewählt wurde, sprachen die anwesenden Rezensenten seinem dramatischen Erstling literarische Tiefe ab. Sie sahen eine Satire, die nur aufs politische Theater eindresche und jedes Bemühen um Auseinandersetzung mit Gegenwart im Theater für lächerlich erkläre – ein Bemühen, dass ins Nichts führe.

Wie konnte das geschehen? Sicher, "Der große Marsch" ist ein Insider-Scherz, auch Satire und Ironie, gemünzt aufs politische (Gegenwarts-)Theater ebenso wie auf den Theaterbetrieb an sich, mehr noch auf jene, die den öffentlichen Diskurs bestimmen und beherrschen wollen, ohne ihn selbst zu durchdringen. Dass es hier ausgerechnet eine Schauspielerin ist, die dumpfbackig politisierend durch den Abend talkt, hat wohl mit dem Utopieort Theater zu tun, den Lotz als Rahmen wählt und der sich so als gefährdet erweist. Vor allem aber ist "Der große Marsch" tiefere Bedeutung, ein romantischer Wurf im Schlegel'schen Sinn, eine Feier der menschlichen Sehnsucht danach, leben zu wollen und doch sterben zu müssen. Lotz fordert mit kindlichem Trotz etwas, was nur die Kunst zu geben vermag: das Unmögliche.

Hamlet und der echte Ackermann

Deshalb muss es laut Regieanweisung der echte Wolfram Lotz sein (oder ein besonders dicker Schauspieler), der von der moderierend durch das Stück führenden Schauspielerin befragt wird. Dieser fiktive Lotz, der so mit verschleierndem Nachdruck behauptet, der echte zu sein, will eigentlich etwas über die RAF schreiben, lässt es aber bleiben, weil die Szenen des vom Theater georderten Stücks kurz sein sollen, "da kann man ein so komplexes Thema nicht so einfach entwickeln".

der grosse marsch4 simonhallstroemSignatur in leuchtenden Lettern
© Simon Hallström
Schon tritt er ab. Dafür folgt ein Reigen aus Josef Ackermann (ebenfalls der echte), Hamlet, Arbeitgeberpräsident Hundt (auch der echte, natürlich), Patrick S., der wegen Inzests und gemeinsamen Kindern mit seiner Schwester zu Haftstrafen verurteilt wurde, die Mutter des Autors, der Attentäter Lewis Paine, der Anarchist Bakunin und Prometheus.

Ihnen allen fühlt die ach so engagierte Schauspielerin politisch auf den Zahn, fordert klare Positionen, entlarvt sich dabei zwischen "Ich sage nur, wie's ist!" und "Schreien Sie nicht! Wir sind hier nicht in der Unterschicht, sondern im Theater!" selbst, während "zwei hässliche Schauspieler" brüllen: "Wir heben es im Chor hervor!"

Literatur, was sonst?

Lotz' Reigen wimmelt von Sätzen Loriot'scher Prägnanz, Lakonie und tragikomischer Pointen, vor allem birst er vor maßlosen Regieanweisungen mit ihren literarischen Verweisen: Im dritten Teil fordert er etwa vier unmögliche Rolltreppen im Escher-Modus, eine riesige schwarze Schlange, die fünfzig Töchter des Meeresgottes Nereus und der Doris – nur so zum Beispiel. Wer hier nicht, sei er Regisseur oder Kritiker, begreift, dass es sich bei jedem Wort zwischen Titel und Schlusspunkt um Literatur handelt und beim "Sekundärtext" um einen gleichberechtigen Teil davon, der an die maßlosen deutschsprachigen Dramen anknüpft zwischen Ludwig Tiecks "Gestiefeltem Kater" und Else Lasker-Schülers "IchundIch", dem ist nicht zu helfen.

Die Uraufführungskritiker jedenfalls mokierten sich unter anderem über die Regieanweisungen, die Regisseur Christoph Diem, der mit 14 Schauspielern fast das gesamte koproduzierende Saarbrücker Ensemble auf die Bühne schickte, zu beherrschen versuchte. Während die 50 Nereiden und die Escher-Treppen auf die verdeckten Zuschauerreihen projiziert wurden, saß das Publikum im dritten Teil auf der Bühne, wo es zuvor vom Kartoffelsalat-Buffet des zweiten Aktes profitiert hatte. Alles nicht Zeigbare wurde eingelesen, real existierende Personen der Gegenwart mit fotografisch reproduzierten Masken verkörpert, bereits verblichene in pittoresken Kostümen auf die Bühne geschickt.

Komische Spannung

Antje Schupp nahm bei ihrer Inszenierung in Basel den Kampf mit Lotz' Stück entschiedener auf. Mit nur vier Schauspielern (und sich selbst am Klavier) lässt sie die Regieanweisungen nahezu vollständig als Übertitel projizieren, was der komischen Spannung ziemlich gut bekommt. Denn zwischen Maßlosigkeit und nahezu leerer (Vorder-)Bühne – die Interview-Situation des ersten Teils bestreiten die Schauspieler aus und vor einer Art Souffleurkasten, der die Basler Kleine Bühne imitiert – vibriert Lotz' Ironie besonders schön. Zumal, wenn zum Ende des ersten Teils das Publikum bereits applaudiert und dann erst die "Anweisung" erscheint: "Dann klatscht das Publikum – zum Teil, weil es ihm so gut gefallen hat, zum Teil aus Respekt vor der schauspielerischen Leistung."

Statt des geforderten Gartenzauns mühen sich Mira Kandathil und der jetzt in einem Fatsuit steckende Lorenz Nufer auf der geweiteten Bühne marthalerhaft an einem Stück rotweißem Absperrband ab, während Nicole Coulibaly das prachtvolle Buffet hereinschiebt. Minutiös checken die Schauspieler Lotz' detaillierte Beschreibung eines kleinkarierten Verköstigungstraums. Dann kontert Schupp einmal mehr die Literatur mit Theater: zuerst mit einer orgelnden Licht- und Musikshow, dann mit ihrem Namen in leuchtenden großen Lettern (und, viel kleiner darunter, ebenfalls strahlend: Theater Basel).

Erschrecken über die Endlichkeit

Spielerisch die Relationen zu verändern und anzupassen ist ja eine der großen Chancen der Bühne, auf der – anders als im Film – lange schon niemand mehr Realismus und Wahrscheinlichkeit erwartet. Also zaubert Schupp, während sie ihre Karten offenlegt: Die "echte" Schlange mit einem Kopf "so groß wie ein Kleinwagen" ist eine Handpuppe, deren Schatten übergroß auf die Bühnenrückwand fällt, während sie mit hoher, scheinriesenhafter Stimme piepst. Auch das Schreien der "12 mongoloiden Kinder" (politisch inkorrekt ist er natürlich auch, der Lotz, aber immer noch menschlicher als seine vor sich hinquatschende Moderatorin), das plötzlich den Saal erfüllt, erweist sich als gemacht: ein elektrischer Loop, der klingt wie das Stöhnen von Maschinen.

Im dritten Teil bricht sich dann Lotz' verzweifeltes Erschrecken über die Endlichkeit des Lebens bahn, gähnt hinter der glänzenden, dennoch brüchigen Oberfläche, hinter so herrlichen Sätzen wie "Die Seegurke ist unsterblich! ...Wir müssen nur die Seegurke fragen!" ein Abgrund. Bei "Lotz'" zweiten Auftritt, als er sich am Buffet die Taschen mit Buletten füllt, lässt es sich noch überhören, dieses Aufkratzen des Risses in der Weltkulisse: "Vielleicht werden Sie es komisch finden / Aber bei allem Klamauk / Den man macht, gibt es etwas / Das zu tun hat mit Schmerz / Und Traurigkeit. / Und man macht sich lächerlich / wenn man es sagt ..." Gegen Ende aber sprechen Bakunin, Paine und Prometheus immer wieder von der herzzerreißenden Sehnsucht, einfach da zu sein, nicht sterben zu müssen.

An Wunder muss man glauben

Bei Schupp findet das auf einer vollkommen leeren Bühne statt, nur noch Teile der Leuchtschrift stehen und hängen herum. Der Budenzauber ist vorbei und kommt auch nicht wieder (auch wenn die Idee, alle 50 Nereiden als kopflose Statuen-Pappkameraden auf die Bühne zu tragen, natürlich großartig ist). Coulibalys moderierende Schauspielerin versteht weiterhin nicht, worum es geht, aber die Regie lässt doch zunehmend Momente von Eigentlichkeit und Wunderhaftigkeit aufblitzen, wenn Schnee auf Paine rieselt und Coulibaly Felix Leus lebenssehnsüchtiges Gedicht zur Klavierbegleitung singt. Dann aber räumt die Schauspielerin missmutig alle übernatürlichen Zeichen ab, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Und erinnert so an die Kritiker der Uraufführung. An Wunder muss man schließlich glauben, sonst fallen sie aus.

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