Die Vergangenheit kommt erst noch

von Dirk Pilz

Als ich vor zwei Jahren "Im Rücken die Stadt", das Theaterstück des jungen, 1981 im thüringischen Gera geborenen Dramatikers Thomas Freyer, las, schien mir, als markiere es eine bleibende Zäsur in der Nachwendedramatik. Ich meinte, hier den ersten groß und tiefgründig angelegten Bühnentext gefunden zu haben, der sich einer Frage widmet, die nicht nur im deutschen Theater, sondern auch gesamtgesellschaftlich bemerkenswerterweise bislang kaum gestellt wurde: die Frage der jungen, diesseits von 1989 erwachsen gewordenen Generation nach dem Leben und Denken ihrer Eltern im DDR-Alltag. Die Frage, wer wann und warum sich wie mit dem System arrangiert oder eben nicht arrangiert hat. Die Frage nach jener "rätselhaften Stabilität der DDR", die der amerikanische Historiker Andrew I. Port im selben Jahr in seinem Buch über "Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland" stellte.

Es ist dies auch meine Frage, geboren in Sachsen, knapp 18 Jahre wohnhaft gewesen in der DDR; und hier, mit "Im Rücken der Stadt", schien mir ein Ausnahmefall vorzuliegen. Bislang diskutiert die Öffentlichkeit ja, wenn überhaupt, über skandalträchtige Stasi-Fälle oder zum Heldentum hochgejazzte Widerständler; das ganz normale Mitwursteln der ganz normalen Durchschnitts-DDR-Bürger kommt in diesen Debatten auffällig selten vor – man könnte den Eindruck gewinnen, das DDR-System hätte aus einigen bösen Buben und der großen Schar wehrloser Dulder bestanden.

Thomas Freyer fängt an, so dachte ich, genauer hinzuschauen. Und bemerkenswert kam mir das Stück dabei vor allem deshalb vor, weil es diese Frage weder plump moralisch noch vorwurfsvoll, aber durchaus energisch stellt.

im ruecken die stadt1 marlieskrossLaura Maria Hänsel und Jan Hasenfuß © Marlies Kross

Realitätstupfer und Bewusstseinslandschaft

"Im Rücken die Stadt" ist in einer namenlosen, ostdeutschen Provinzstadt angesiedelt: Die Arbeitslosenzahlen steigen, die Einwohnerzahlen fallen, bei manchen blühen ostalgische Phantasmen, einer baut den Vergnügungspark "Fun and Dreams". Dieses Drama lebt dabei von schroffen Szenen- und Perspektivwechseln, versucht aber nicht, der Wirklichkeit geradewegs unter den Rock zu greifen; es versammelt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einzelne, mitunter auch vereinzelt wirkende Realitätstupfer.

Im Zentrum der so angedeuteten Bewusstseinslandschaft: Ina, die Studentin aus der großen Stadt, gekommen in ihre Heimat zum Großvatergeburtstag. Gekommen auch, um die Mutter, die Großeltern, den Ex-Geliebten nach dem "alten Land" zu fragen. Einfache, einheitliche Antworten darauf? Natürlich nicht, aber sie fragt immerhin am Ende sich selbst: Was wäre, hätte das "alte Land" weiter bestanden? Würde sie, als junge Parteigängerin vielleicht, heute mit der Genossin Mama beim Kaffee friedlich-fröhlich sozialistische Belange erörtern? Auch das ist möglich.

Ur- und Zweitaufführung

In der Uraufführungsinszenierung, Ende Januar 2010 am Berliner Maxim-Gorki-Theater, der jungen Regisseurin Nora Schlocker, 1983 in Österreich geboren, spielte Britta Hammelstein diese Ina als eine Wahrheitssucherin zwischen Trotz und Fahrigkeit. Sie sang und schwieg und schrie – und war in allem eine von Unversöhnlichkeit, Trauer, Angst zerfurchte Figur. Je größer ihr Furor, desto scharfkantiger die Worte und Blicke; mit jedem Satz stöberte sie ein neues Widerspruchsnest auf.

In der Zweitaufführung des nicht mehr ganz so jungen, 1969 in Berlin (West) geborenen Harald Fuhrmann am Staatstheater Cottbus steht diese Ina zu Beginn auf leerer, weiter, einzig mit fünf Podesten bestückter Bühne unter einem Himmel aus lauter Lampenschirmen und singt den alten, vor allem ostidentitätsstiftenden 80er-Jahre-Song "Als ich fort ging" von Dirk Michaelis und Karussell: "Nichts ist unendlich, so sieh das doch ein." Unendlich nicht, aber alles ist endlich genug, um Fragen, Wunden, Spuren zu hinterlassen. Also sucht diese Ina nach Erklärung. Bei Mutter Ingrid (Sigrun Fischer) zum Beispiel, die damals hinter der Mauer als felsenfest überzeugte Sozialistin durchs Land und das Leben schritt und heute butterweich, aber unbeirrt die Versicherungsvertreterin gibt. "Ich will das nicht, dass alles so geht", so Ina, was bei Ariadne Pabst aber kein bloßer rebellischer Trotzausruf, sondern auch Eingeständnis ist: So nicht, aber wie dann? Leben, wo willst du hinaus?

Unter dem Himmel des Grundsätzlichen

Bereits an dieser Szene wird etwas sichtbar, was die Cottbusser von der Berliner Inszenierung scheidet: Die Uraufführung schritt jenen Raum ab, den ich auch bei der Stücklektüre vor allem wahrgenommen hatte, den Vergangenheitsraum eines untergegangenen Landes, der in den Köpfen und Seelen, so oder so, weiterlebt. Harald Fuhrmann dagegen geht weiter, ohne in den Stücktext schlimm eingreifen zu müssen: Er entwirft ein Figurenpanorama, das unter dem Himmel des Grundsätzlichen errichtet ist. Wenn nämlich Ina auf ihren Jugendfreund Daniel (Jan Hasenfuß) trifft, dem "Geld und Absicherung" kaum mehr als ein "Scheiß drauf" wert ist, wenn sie bei Heiko (Rolf-Jürgen Gebert) aufkreuzt, der alles von seinem Vergnügungspark "Fun and Dreams" erhofft, wenn sie mit Muttern bei den Großeltern ist und wenn dabei immerfort zwischen den Podesten hin- und hergewechselt wird, ist es stets ist, als würden hier Selbstverständigungsgespräche über das Woher und Warum und Wohin des Daseins geführt. Als würden Haltungen, Perspektiven, Lebensgefühle probiert. Als würde erforscht, wie es ist, die (Vergangenheits-)Last des anderen zu tragen.

Damit überschreitet diese Inszenierung nicht nur den Vorstellungs- und Erinnerungsraum der DDR, sondern auch den einer sich entvölkerten Provinz. Damit wird es, zum Beispiel, möglich, dass die Großeltern als Figuren gar nicht mehr auftreten (das ist dann doch ein größerer Eingriff in den Text), sondern dass sie zu Spielphantasien von Ina und Mutter Ingrid werden. Und möglich wird es – paradoxerweise! – gerade dadurch, indem der Abend einerseits sehr konkrete Assoziationen bedient (der Karussell-Song am Anfang, ein Nena-Song am Ende, die Lampenschirme, karierte Hemden – allesamt klar zuordenbare Zeichen), anderseits aber durch die Spiel-, Sprech- und Situationswechsel ins Allgemeine strebt.

Einsamkeitshelden

Es ist das Allgemeine eines Lebens im Zeitalter des Sich-selbst-verwirklichen-Müssens. Ein Zeitalter, in dem Freiheit zusehends als Leistungszwang erfahren wird, in dem die Verbindlichkeiten abnehmen und die Verlorenheit zunimmt, in dem nicht nur die Städte schrumpfen, sondern auch die Begegnungs- und Verständigungsräume. Ein Zeitalter, so kann man dieses Stück offenbar auch lesen, das eifrig an der Verfertigung lauter Einsamkeitshelden arbeitet.

"Das Stück", sagt Harald Fuhrmann, "fragt auch, worüber ich heute in meinem Leben Selbstbestätigung finde. Ist es das Privatleben oder die Arbeit." Es bleibt damit ein Stück über die DDR, wird aber auch eines über die rätselhafte Stabilität einer Leistungsgesellschaft: Alle leiden an ihr, alle machen mit.

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